Zu Beginn des Tages ahnen wir noch nichts von einem Burg-Neubau wie im Mittelalter. Pünktlich zum meteorologischen Herbstanfang erleben wir einen Temperatursturz um fast 20 Grad. Über Nacht hat die „Polarkeule“ das Quecksilber auf 15 Grad fallen lassen. Der Himmel ist grau, vom warmen Sommertag gestern ist nichts geblieben. Doch wir lassen uns die Urlaubslaune von einem Wetterwechsel nicht verderben. Gestärkt mit frischen Croissants und heißem Kaffee brechen wir auf in Richtung Périgord in Südwestfrankreich. Heute gibt es nur Landstraßen mit Tempolimit 80 km/h, die nächste Autobahn ist über 100km Umweg. Aber so erlebt man die französische Campagne hautnah. Man kommt durch nette Örtchen und entdeckt das ein oder andere schöne Herrenhaus hinter einer langen Pappelallee.
Burg-Neubau wie im Mittelalter
Halt, war da nicht eben ein Schild „Chantier Médiéval de Guédelon“? In unseren Köpfen sind die Bilder einer TV-Dokumentation über den Neubau einer mittelalterlichen Burganlage wie im 13. Jahrhundert. Jetzt ist es nur ein kurzer Umweg bis dorthin. Spontan beschließen wir, uns diese außergewöhnliche Baustelle selbst anzuschauen.
Der Eintrittspreis von 14€ pro Person scheint happig, doch finanziert sich das Projekt Burg-Neubau Guédelon über diese Einnahmen. Dafür erhält man an der Kasse ein deutschsprachiges Infoblatt, wodurch sich die Anlage auch ohne Führung (zu festen Zeiten, nur in Englisch und Französisch) gut erschließt. Seit 1997 sind rund 50 Handwerker an der Baustelle beschäftigt. Dazu kommen Studenten für Praktika und freiwillige Helfer mit entsprechender Ausbildung.
Lebendiges Museum
Sie ist wirklich groß, so unser erster Eindruck, denn die äußere Burganlage ist schon sehr beeindruckend. Die Ringmauer und drei Ecktürme sind bereits rekonstruiert. In der vierten Ecke steht der große Bergfried des Seigneurs sowie der Palas mit den Küchenräumen. Dagegen sind die Türme auf beiden Seiten des Tors noch im Bau. Es ist ein lebendiges Museum, überall sind Handwerker mit einfachem Werkzeug an der Arbeit. Steinmetze behauen mit Hammer und Meißel große Steinblöcke, ohne jede maschinelle Unterstützung. Bis auf vorgeschriebene Sicherheitskleidung sind sie gewandet wie im Mittelalter. Mit einem hölzernen Lastenheber heben sie die fertigen Blöcke auf die Mauer, die dort von den Maurern weiterverarbeitet werden. Werkzeuge und Nägel fertigt der Schmied in Handarbeit vor Ort. In benachbarten Werkstätten werden Tonziegel gebrannt, Hanfseile gedreht und Holzschindeln für die Dächer hergestellt. Immer wieder rumpelt ein Pferdekarren mit weiterem Material heran, die beiden Esel warten am Bauernhof noch auf ihren Einsatz.
Experiment mit wissenschaftlicher Begleitung
Die weitläufige Burganlage ist kein mittelalterliches Disneyland für König Arthur Fans. Es handelt sich um ein Rekonstruktionsprojekt mit wissenschaftlicher Begleitung durch die Universität Aix-Marseille. Hier werden nur Materialien und Techniken angewendet, die im 13. Jahrhundert bekannt waren. Dabei wollen die Experten herausfinden, wie bestimmte Gewerke im Mittelalter ausgeführt wurden. Alles geschieht nach den Prinzipien der experimentellen Archäologie. Deshalb verwenden die Maurer keinen Zement, der ein Produkt des 19. Jahrhunderts ist. Stattdessen mischen sie den Mörtel von Hand aus Sand, Ton und gelöschtem Kalk. Man kann viel lernen bei einem Rundgang, die Handwerker erklären bereitwillig ihre Arbeit. Wir fanden das alles sehr spannend und verbrachten mehr als zwei Stunden in der Ausstellung. Unser Fazit: unbedingt anschauen, wenn man in der Region unterwegs ist.
Info
Parkplatz GPS-Koordinaten: Latitude 47.58136° – Longitude 3.15550° Kostenlose Parkplätze für Wohnmobile, Übernachten ist nicht gestattet.
Link zur Homepage: www.guedelon.fr/de/